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Internats-Syndrom: Erfolg im Beruf, krank in der Seele

Machen Eton, Westminster und Cardiff krank? In Großbritannien ist eine Diskussion über psychische Schäden durch die Erziehung in Elite-Schulen entbrannt. Therapeuten fordern für manche Jungen und Mädchen ein Internatsverbot.

David Cameron ist ein kranker Mann. Der englische Premierminister, Eton- und Oxford-Absolvent, leidet unter dem "Internats-Syndrom". Das Aufwachsen in britischen Elite-Internaten seit seinem siebten Lebensjahr hat ihm soziale Inkompetenz - insbesondere gegenüber Frauen -, emotionale Unreife und einen wackligen moralischen Kompass verpasst.

So jedenfalls sieht es eine wachsende Zahl von Psychotherapeuten und Erziehungsexperten, die das sogenannte "Boarding School Syndrom" (BSS) als Ursache für weitverbreitete Probleme von britischen Internatsschülern und -alumni identifiziert haben. "Die meisten kommen erst in die Therapie, wenn sie eine akute Lebenskrise haben", sagt Psychotherapeut Nick Duffell, Pionier der BSS-Behandlung. Am häufigsten suchen ihn ehemalige Internatsschüler wegen gescheiterter Ehen oder der Entfremdung von ihren Kindern auf.

"Boarding-School-Überlebende", so Duffell, funktionieren zwar im Alltag und im beruflichen Umfeld gut, sind häufig sogar sehr erfolgreich, können aber keine intimen Beziehungen eingehen. Vielmehr hätten sie eine elitäre Anspruchshaltung verinnerlicht und reagierten auf Widerstand mit kalter Überheblichkeit. Wirklich wohl fühlen sie sich demnach nur unter ihresgleichen - also unter Männern aus privilegiertem Elternhaus.

In Großbritannien hat die BSS-Bewegung mittlerweile eine breite Debatte angestoßen: Sind die teuren, renommierten und altehrwürdigen Kaderschmieden in Wahrheit rücksichtslose Fabriken für hochqualifizierte Leistungsträger, die emotionale Zombies werden? Gleichzeitig ist diese Schulform so beliebt wie noch nie. 68.000 Schüler, immerhin ein Prozent mehr als im Vorjahr, besuchen derzeit ein britisches Internat - obwohl die durchschnittlichen Kosten in demselben Zeitraum auf umgerechnet 35.500 Euro pro Jahr gestiegen sind.

Unterstützung bekommen die Kritiker von großen Namen: Romanautor John le Carré (Sherborne School), in dessen berühmten Spionageromanen die Figur des entrückten Apparatschiks zum wiederkehrenden Personal gehört, hat es klarer formuliert als jeder andere: "Die Briten sind eh ein bisschen verrückt; aber was die Verstümmelung ihrer privilegierten Kinder angeht, sind sie schlicht wahnsinnig und kriminell." Und der Starjournalist George Monbiot rechnet im "Guardian" vor, dass das britische Internatswesen nicht weniger als elf Artikel der Uno-Kinderrechtskonvention verletzt.

Ursache des Syndroms sei die emotional abgeschottete "Überlebenspersönlichkeit", die sich Internatskinder schnell zulegen, erklärt die Psychogin Joy Schaverien, die das BSS schon 2004 im "Journal of Analytical Psychology" erstmals vorgestellt hat. "Viele Kinder werden schon im Alter von sieben oder acht in Vollzeitinternate eingeschult - insbesondere die Trennung von der Mutter wird als extrem traumatisch erfahren", sagt sie. "Das prägt für den Rest des Lebens."

"Ich habe geheult und geheult und geheult", erinnert sich der heute 30-jährige Sam Barber, Hawtreys- und Eton-Absolvent, an seine ersten Wochen in der neuen Umgebung. "Irgendwann hört man dann auf mit dem Heulen, weil man mit dem Fühlen aufhört. Man ist gebrochen."

Die straffen Hierarchien unter den Schülern und von Seiten der Lehrer würden das Trauma und die innerliche Abschottung noch verstärken. "Die Häuser werden beinahe militärisch geführt", sagt Oxford-Alumnus Duffell. Dabei sind die älteren Schüler dafür verantwortlich, dass die zahlreichen wahllosen Regeln, die das Leben in den Wohnhallen minutiös strukturieren, eingehalten werden.

Hinzu kommt Experten zufolge eine Störung der sexuellen Entwicklung. Die meisten Elite-Internate stehen immer noch nur Jungs offen, eine normale Sozialisation mit dem anderen Geschlecht ist dort unmöglich. "Frauen werden objektifiziert und idealisiert", sagt Simon Partridge, der im Internat von Boarzell und im Eastbourne College großgeworden ist. "Aber echten Respekt hat man nur vor Männern."

Mehr Aufmerksamkeit verschaffen der BSS-Bewegung auch zunehmende Berichte über sexuellen Missbrauch an vielen Internaten. So erhielten im Januar zwanzig Elite-Internate eine Sammelklage wegen des Vorwurfs von sexuellem Missbrauch durch Lehrer. Darin aufgeführt: Mehrere Dutzend Fälle, die sich über vier Jahrzehnte erstrecken. Für einen öffentlichen Aufschrei sorgte Anfang Mai auch ein langer Artikel im "Observer", in dem der Autor Alex Renton offen über seine Misshandlung am Ashdown House schrieb, wo auch Londons Bürgermeister Boris Johnson und der Schauspieler Damien Lewis aufwuchsen.

Die Aufregung über den Text gipfelte in einer Kampagne, die Internate für Kinder unter dem Teenager-Alter komplett verboten sehen will. "Wir fordern das Ende dieser nachweislich schädlichen Internate für junge Kinder", heißt es in einem von Dutzenden Psychotherapeuten und Aktivisten unterzeichneten offenen Brief.

Befürworter des weiterhin sehr populären Erziehungsideals reagieren mit Unverständnis auf die Kampagne: Elite-Internate stehen aus ihrer Sicht für beste akademische Traditionen - und überhaupt, heute sei eh alles besser als früher. "Heutzutage stellen wir immer sicher, dass die Kinder mitentscheiden, ob sie in ein Internat gehen wollen", sagte Ray McGovern, Präsident der "Boarding Schools Association", im "Guardian". Außerdem sei durch Handys und Wochenendbesuche die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern viel besser geworden.

Doch Therapeut Duffel glaubt nicht an eine Besserung - zumindest nicht, solange der folgende Grundsatz noch gilt: "Der direkte Weg von den berühmten Privatschulen über 'Oxbridge' zu hohen öffentlichen Ämtern ist fest etabliert."

Quellen:

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